Federding oder Kanalratte?

Shownotes

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Wort zum Tage im Deutschlandfunk Kultur

Pfarrerin Melitta Mller-Hansen

aus Mnchen

Federding oder Kanalratte? 07.08.2025

Zwei amerikanische Dichterinnen. Aus zwei Jahrhunderten. Emily Dickinson, 19. Jahrhundert, und Caitlin Seida, 21. Jahrhundert. Beide haben ein Gedicht ber die Hoffnung geschrieben. Die Texte knnten unterschiedlicher nicht sein.

Fr Emily ist die Hoffnung ein Federding, -/ das in der Seele hockt /und Lieder ohne Worte singt Im Sturm - klingt es am lieblichsten- / Und der muss heftig wehn - / Den kleinen Vogel zu beschmen/ So viele hielt er warm. Ich hrte ihm im Eisland zu - / und auf dem fernsten Meer- / Doch wollt er selbst im Notfall, nie / Ein Krmelchen von mir.

Ein zher zarter Vogel, der nicht einmal ein Krmelchen annimmt. Die Hoffnung ist immer da, im Eisland des Lebens und auf einsamer See. Er singt und verlsst mich nicht. Und hlt mich warm und viele andere auch.

Mich hat dieses Bild sofort angesprochen. Das Zarte und Zhe zugleich. Und dass in mir ein Vogel singt, mir etwas zuspielt, wenn ich in Traurigkeit versinke. Eine Melodie, einen neuen Gedanken. Das stimmt schon so erlebe ich es oft, dass Hoffnung zu mir kommt, in mir auflebt.

Caitlin Seida widerspricht. Statt Federn zu haben und ein Lied, kommt ihre Hoffnung aus dem Dreck der Strae.

Hoffnung ist nicht das Federding, / das nach Hause kommt zum Schlafen, / wenn du es am meisten brauchst./ Hoffnung ist ein hssliches Ding / mit Zhnen und Klauen und / Flickhaftem Fell, das so manche Scheie gesehen hat. / Es ist das, was in Abfallbergen gedeiht / und berlebt in den hsslichsten Teilen unserer Welt. / Imstande einen Weg weiter zu finden, wenn sonst nichts mehr auch nur einen Weg hinein finden kann. ./

Caitlin Seda spricht in ihrem Gedicht Emily Dickinson direkt an: Hoffnung ist nicht ein graziler schner Vogel, / Emily. / Es ist eine kleine Kanalratte, / die Pestizide schnupft, als ob sie Linien von Kokain wren, und dennoch / rechtzeitig bei der Arbeit erscheint am nchsten Tag. / Ohne mitgenommen auszusehen.

Die Kanalratte Hoffnung frisst das Gift auf, das wir auf die Felder schtten, das im Grundwasser landet. Sie ist hsslich wie die Gegenden, in denen sie sich aufhlt. Unansehnlich, dreckig, stachelig. Und doch macht sie ihre Arbeit und findet Auswege aus dem Dreck.

Ich will mich gar nicht entscheiden, wer recht hat. Emily oder Caitlin. Ich glaube, ich brauche beides: den zhen, zarten Vogel, der mir ein Lied singt. Und ich brauche die Kanalratte Hoffnung, die sich hineinbegibt in den Misthaufen und in den Untergrund, wo wir nicht gerne hinschauen.

Es gilt das gesprochene Wort.

Redaktion: Pfarrer Martin Vorlnder (martin.vorlaender@gep.de)

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