Wendepunkt

Shownotes

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Morgenandacht im Deutschlandfunk

Pfarrerin Andrea Wagner-Pinggra

aus Bielefeld

Wendepunkt 08.09.2025

In den vergangenen Jahren habe ich immer wieder Jugendliche mit schwierigen Biografien kennengelernt. Das Leben hat es mit ihnen nicht gut gemeint. Da ist die Mutter psychisch krank. Der Vater gewaltttig oder alkoholabhngig. Die Eltern vielleicht einfach nicht prsent. Mit sich selbst beschftigt, berfordert.

Andere sind einfach so aus dem Tritt geraten. Ein eigentlich unaufflliges Elternhaus. Morgens ein Frhstck, gemeinsames Abendessen. Frsorge und Interesse. Aber ab einem gewissen Alter bt die Strae eine unwiderstehliche Macht aus. Sich irgendwo rumdrcken. Abhngen. Kiffen. Andere Drogen. Schlielich wird die Strae das Zuhause. Manche werden straffllig. Andere greift die Polizei auf, weil sie noch nicht volljhrig sind.

Dann sind sie wieder ein paar Tage zuhause. Es gibt Stress, weil irgendetwas gemacht oder nicht gemacht ist. Die Strae ist der naheliegende Ausweg. Und das Ganze geht von vorne los. Zur Schule gehen? Lngst Fehlanzeige.

Ich erinnere mich an meinen ersten Besuch im Wendepunkt. So heit eine Einrichtung in der Nhe von Bernau bei Berlin. Drei moderne Huser, in denen je sechs junge Menschen wohnen. Groes Grundstck. Sporthalle. Feuerstelle.

Es ist ein normaler Morgen unter der Woche. Die meisten Jugendlichen sind auf dem Gelnde unterwegs. Ist heute keine Schule?, frage ich. Schon, aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg, erklrt mir die Einrichtungsleiterin. Es dauert, bis sich die Jugendlichen wieder an ein strukturiertes Leben gewhnen.

Im Lauf des Vormittags kommen die meisten einmal kurz vorbei. Sagen wenig, schauen blo. Verschwinden schnell wieder.

Ich komme immer wieder zu Besuch. Manchmal machen wir etwas miteinander. Feiern einen Gottesdienst, ein Fest. Ich versuche, in Kontakt zu kommen. Bei einer Person gelingt das. Er fngt an zu reden. Er zeigt mir den Garten, wo er mithilft, Kartoffeln und Tomaten anzubauen. Setzt sich ans E-Piano und spielt das eine Lied, das er sich selbst beigebracht hat. Ich glaube, es ist der Entertainer. Als es mir gut gefllt, findet er, dass er es auch in groer Runde spielen mchte.

Ich bin ganz gerhrt. Denke daran, wie er zuerst vorsichtig um mich herumgeschlichen ist. Mit viel Geduld, Klarheit und der Taxierung von Nhe und Distanz ist nun ein erstes Vertrauen gewachsen.

Irgendwann kommt die Zeit, dass die Jugendlichen den Wendepunkt verlassen mssen. Raus aus dem Nest. Rein ins Leben. Sie werden ausgewildert. Oder, um es im Fachjargon zu sagen: verselbstndigt.

Bei einer Feier treffe ich eine junge Frau. Sie ist sympathisch, offen, hat gerade ihre Ausbildung mit Bravour abgeschlossen. Sie sagt: Durch den Wendepunkt bin ich ins Leben gekommen. Ich frage: Sie meinen, ins Leben zurckgekommen? Nein, nein, sagt sie. Ich bin hier ins Leben gekommen. Da war ich vorher nicht. Hier bin ich ins Leben gekommen.

Fr sie wurde der Wendepunkt zum Anfangspunkt. Zum Beginn des Lebens. Das gelingt nicht immer und nicht bei allen. Aber dort, wo es gelingt, ist es eine groe Freude. Fr alle Beteiligten.

Manche mchten diese Erfahrung an andere weitergeben. Die junge Frau ist Erzieherin geworden. Ein anderer arbeitet nun als Heilpdagoge selbst im Wendepunkt. Um fr andere den Weg so zu ebnen, dass sich wenden kann, was an einen Endpunkt gekommen scheint.

Wendepunkt. Erst fand ich den Namen komisch. Weil ich dachte, so ein Wendepunkt ist doch etwas hchst Zuflliges. Die Geschichten der Jugendlichen haben mir gezeigt: Der Name stimmt. Denn bei allem, was unverfgbar ist und bleibt, hat eine Wende auch viel mit dem beharrlichen Geschick derer zu tun, die sich bemhen.

Es gilt das gesprochene Wort.

Redaktion: Pfarrer Martin Vorlnder (martin.vorlaender@gep.de)

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