Der Weisheit letzter Schluss

Morgenandacht im Deutschlandfunk

Pfarrerin Melitta Mller-Hansen

aus Mnchen

Der Weisheit letzter Schluss 22.09.2025

Viele Zugvgel ziehen in diesen Tagen ihre Bahnen. Ein Tanz am Himmel, nach eigener ewig gleichbleibender Choreografie. Ein groes V, Schlangenlinien. Das liebe ich am Herbst. Ich schaue ihnen so gerne nach. Woher nehmen sie die Weisheit fr ihre Formationen am Himmel? Die zweitgrte Flugroute der Welt geht ber Israel und Palstina. 500 Millionen Vgel ziehen jedes Jahr ber Bait Dschala nahe Jerusalem durch die Lfte. Und tanzen ihren einmalig schnen Weisheitstanz am Himmel. Und unten auf der Erde, die Menschen? Zerstrung, Tod, Hass und kein Ende. Ob die Zugvgel dort auch jetzt fliegen?

Im September vor zwei Jahren, kurz bevor am 7. Oktober die Hamas-Terroristen Jdinnen und Juden auf grausamste Weise gettet und viele als Geiseln verschleppt haben, war ich bei einer Lesung in Mnchen. Ich habe zwei Mnnern zugehrt, die auf Deutschlandtour waren mit ihrer Geschichte. Bassam Aramin und Rami Elhanan. Ein palstinensischer Araber und ein israelischer Jude.

Was sie verbindet? Sie beide wollten Menschen tten, die sie nicht kennen. So erzhlen sie es an diesem Abend in Mnchen. Bassam ist schon mit 17 ins Gefngnis gekommen, weil er gegen die israelische Besatzungsmacht Molotowcocktails geworfen hat. Aber im Gefngnis wendet er sich ab von Gewalt. Eine 180 Grad-Wende. Er grndet zusammen mit Rami und anderen die Combattants for peace. Kmpfer fr den Frieden. Ihr Ziel: Feindbilder berwinden. Das gemeinsame Menschliche entdecken. Die Geschichten der Gegenseite kennenlernen.

Und dann haben Bassam und Rami noch etwas gemeinsam. Sie sind beide Vter. Sie werden Mitglieder im Parents Circle, im Elternkreis. Hier kommen Eltern zusammen von allen Seiten des israelisch-palstinensischen Konflikts. Juden, Palstinenser, Christen, Muslime. 600 Familien sind es heute etwa. Sie haben alle ein Kind oder mehrere Angehrige verloren in den Kmpfen der Region. Durch die Gewalt von der anderen Seite.

Sie treffen sich, um einander zuzuhren. Sie weinen miteinander.

Und sie gehen zu zweit, immer einer von jeder Seite, um die Botschaft der Vershnung zu verbreiten. Sie halten Vortrge. Gehen in Schulen. Erzhlen die Geschichte ihrer Kinder und die Geschichte der Gewalt, die sie aus dem Leben gerissen hat. So wie Rami und Bassam an diesem Abend.

Rami erzhlt von Smadar. Der Name bedeutet Weinrebe, aufgehende Blte. Meine Prinzessin nennt Rami sie an diesem Abend. Sie ist nur 14 Jahre alt geworden. An einem Freitagnachmittag geht sie in die Jerusalemer Innenstadt shoppen mit ihrer Freundin. Und meldet sich zum Jazztanz an. Pltzlich sprengen sich drei junge Araber in die Luft und reien Smadar mit in den Tod.

Bassam erzhlt von Abir, Das Parfm, Der Duft der Blte. Bassams Tochter ist gerade mal zehn Jahre alt geworden. Sie wird von einem israelischen Grenzpolizisten mit einem Gummigescho am Hinterkopf getroffen. In der Schulpause, als sie sich aus dem Laden gegenber ein grnrosagelbrotes Zuckerarmband gekauft hat. Auf dem Rckweg kurz vor dem Schultor trifft sie der Schuss.

Rami und Bassam erzhlen, wie sie selbst danach gelitten haben. Der Hass, die Wut, die Trauer haben sie fast erstickt. Das alles hren wir bei dieser Lesung, und es zerreit mir das Herz. Und doch habe ich etwas so unumwunden Gutes, Schnes schon lange nicht mehr gehrt. Die beiden trauernden Vter zeigen, wie aus Gewalt Freundschaft entstehen kann. Das ist Weisheit. Den Zugvgeln gleich alle trennenden Grenzen berwinden und frei sein.

Es gilt das gesprochene Wort.

Redaktion: Pfarrer Martin Vorlnder (martin.vorlaender@gep.de)

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