Die Anomalie
Shownotes
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Wort zum Tage im Deutschlandfunk Kultur
Pfarrerin Hannah Clemens
aus Wernigerode
Die Anomalie 17.10.2025
Conny schnallt sich an. Ihr Flugzeug wird bald landen. Die Maschine senkt die Nase und geht runter. Die Reifen setzen auf, das Flugzeug rollt aus und kommt zum Stillstand. Alles ganz normal.
Auer, dass genau dieses Flugzeug samt Passagieren schon einmal gelandet ist. Vor drei Monaten schnappte Conny schon mal ihr Handgepck und drngte sich durch den schmalen Gang. Sie und alle anderen Passagiere gibt es bereits da drauen. Als sie jetzt das Flugzeug verlsst, darf sie nicht nach Hause gehen. Dort ist ja schon jemand, sozusagen Conny I - voll identisch. Alle Passagiere des Fluges werden festgehalten, verstehen nicht, was ihnen widerfhrt. Bis sie schlielich sich selbst gegenberstehen.
Dieses Szenario hat sich der franzsische Autor Herve le Tellier in seinem Roman Die Anomalie ausgedacht. Er beleuchtet die Folgen dieser Anomalie - fr die Gesellschaft, die Religion, den Staat und fr die einzelnen Menschen.
Als ich das Buch gelesen habe, hat mich die Frage beschftigt: Wie wre es, mir selbst zu begegnen? Ich stehe mir gegenber, aber mein Gesicht ist nicht spiegelverkehrt. Fasziniert betrachte ich mich, mal krittelnd, mal wohlwollend. Der Klang meiner Stimme wre zunchst irritierend, wenn ich mit mir spreche. Als mein anderes Ich lacht, muss ich mitlachen. Doch dann denke ich an das, was ich nicht mit meiner Doppelgngerin teilen will: meine Kinder, meine Freunde. Wie geht es weiter nach so einer Begegnung?
Als Christin mchte ich anderen so begegnen, wie es mir das biblische Gebot der Nchstenliebe ans Herz legt: Liebe deinen Nchsten wie dich selbst. Das hebrische Original wrtlich bersetzt bedeutet: Liebe deinen Nchsten, er ist wie du.
Er und sie ist wie du. So handeln, als wrde ich in meinem Nchsten auch mir selbst begegnen. Dazu braucht es vor allem eins: Einfhlungsvermgen. Im Roman begegnen die Figuren ihrem zweiten Ich so, wie sie auch sonst dem Leben begegnen: Die einen mit Misstrauen, die anderen mit Geltungsdrang, die dritten mit Offenheit und Wohlwollen.
Der Roman zeigt beides: Wie viel Leid und Unglck entstehen, wo Menschen sich voreinander verschlieen. Und wie sich neue Wege auftun, wo es gelingt, einander zu begegnen mit der Erkenntnis: Du bist wie ich. Du empfindest Freude und Angst, Liebe und Ablehnung, Gewissheit und Zweifel.
Mir gefllt das Bild vom gemeinsamen Flug, bei dem wir einander und an dessen Ende wir uns selbst begegnen werden. Hoffentlich mit Liebe fr mich selbst genauso wie fr meine Nchsten, damit sich auch dann noch neue Wege auftun.
Es gilt das gesprochene Wort.
Redaktion: Pfarrer Martin Vorlnder (martin.vorlaender@gep.de)
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