Gottes Antlitz

Shownotes

Die Andacht zum Nachlesen und -hören gibt es auch hier inklusive Download: https://rundfunk.evangelisch.de/node/12910

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Wort zum Tage im Deutschlandfunk Kultur

Pfarrerin Barbara Manterfeld-Wormit

aus Berlin

Gottes Antlitz22.09.2022

Ich kannte einmal einen Menschen, der trug Gottes Angesicht. Ich bin ihm begegnet. Sein Name war Richard. Von Beruf Schauspieler. Geboren in Wien, wo das Burgtheater nicht weit ist. Später zog es ihn fort aus Österreich. Das Land war ihm zu hübsch und zu klein geworden – also ging er auf Wanderschaft. Spielte Theater, unterrichtete an der Schauspielschule, landete schließlich in England, wo er seine große Liebe traf. Mit ihr zog er später in den Süden, verwirklichte sich einen Traum, den viele von uns träumen: Die beiden kauften ein Haus mitten in einem Olivenhain. Von dort schaut man weit in die Ebene der umbrischen Berge. Abends läuten die Kirchglocken vom benachbarten Städtchen auf dem Berg. Eine Idylle, in der die Arbeit vieler Jahre steckt. Weil dieser Ort so schön ist, teilen die beiden ihn: Seit Jahren kommen Feriengäste – viele von ihnen kommen immer wieder. Sie genießen die Wärme und das Licht, die Ruhe und den unvergleichlichen Ausblick und: die Gespräche mit Richard. Für jeden Gast hat er Zeit. Und er weiß Geschichten zu erzählen: vom Ort und dessen Vergangenheit, von den Menschen, die hier leben und den wunderbaren Fresken in Kirchen und Klöstern. Er weiß, welches Lied das verstimmte Glockenspiel im Kirchturm spielt. Und manchmal erzählt er vom Theater. Von der Comedia dell‘ Arte und dem Spiel mit den Masken. Jede von ihnen individuell gefertigt und angepasst an die Form des Gesichts wie eine zweite Haut. Wenn er davon erzählt, leuchten die braunen Augen. Jeden Abend sitzt er mit seiner Frau auf der Terrasse. Die beiden reden miteinander. Besteck klappert. Seine Stimme hat diesen besonderen Klang: ein Wiener, den es einmal von Österreich über England nach Italien verschlug. Richard versteht auch die Sprache der Tiere: auf seinem Grundstück leben Hund und Katzen, nachts kommen Rehe und Wildschweine, die Zwergohreule ruft aus der Pinie. Richard kennt sie alle. Kein Wunder: Die Stadt des heiligen Franziskus liegt nur 20 Kilometer von hier entfernt.

Warum erzähle ich diese Geschichte? Richard ist in diesem Sommer gestorben. Er starb an den Folgen einer Krebserkrankung am letzten Tag unserer Reise.

Die Ferien sind zu Ende Ich denke oft an diesen paradiesischen Ort. Und an Richard. Ich habe seine Stimme im Ohr. Sein Wissen. Seine Sanftmut. Seine Gastlichkeit. Sein Einfühlungsvermögen. Es gibt Menschen, die weisen uns auf Gott hin. Er war einer von ihnen. Wir können dankbar sein, wenn wir solchen Menschen begegnen. Sie knipsen ein Licht in uns an. Wenn sie gehen, bleibt etwas von ihrer Wärme in der Welt - und im Himmel wird es noch etwas heller.

Es gilt das gesprochene Wort.

Pfarrer Reinhold Truß-Trautwein (reinhold.truss-trautwein@gep.de)

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