Kein Bildnis machen!
Shownotes
Die Andacht zum Nachlesen und -hören gibt es auch hier inklusive Download: https://rundfunk.evangelisch.de/node/12874
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Gedanken zur Woche im Deutschlandfunk
Pfarrerin Jula Well
aus Unna
Kein Bildnis machen! 30.09.2022
# offengeht: Die interkulturelle Woche feiert die Vielfalt unserer Gesellschaft – schon seit 1975 und auf Initiative der Evangelischen, der Katholischen und der Griechisch-Orthodoxen Kirche. Wer mitmacht, setzt sich ein für Menschenrechte, den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Demokratie und stellt sich gegen jede Form von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit.1 Heute, am »Tag des Flüchtlings«, geht es um die Situation von Menschen, die ihr Heimatland verlassen und sich in Sicherheit bringen müssen.
Das ist ein wichtiger Tag, doch stoße ich mich an seinem Titel. Den Begriff »Flüchtling« finde ich immer sehr problematisch.
Zugegeben, juristisch erfüllt der Begriff »Flüchtling« einen existenziellen Zweck. Die Genfer Flüchtlingskonvention regelt verbindlich, wer als Flüchtling gilt. Der Flüchtlingsstatus ist ein Ergebnis des humanitären Diskurses des 20. Jahrhunderts und hat bis heute zum Schutz von weit über 50 Millionen Menschen beigetragen hat.2 Die Zuordnung zur Kategorie Flüchtling rettet Leben.
Der Begriff »Flüchtling« erzeugt aber auch bestimmte Bilder in den Köpfen der Menschen. Schon die kleine Wortendung -ling spielt dabei eine große Rolle. In der deutschen Sprache bezeichnet die Endung -ling Kleines oder Junges, beispielsweise den Däumling oder Zögling. Oder sie wertet ab, wie mit den Bezeichnungen Emporkömmling oder Wüstling. Oft hat die Endung ling eine passive Komponente, wie beim Schützling.
Auch beim Begriff Flüchtling sorgt sie für einen abschätzigen Beiklang. Die Wucht des Begriffs Flucht wird durch die Endsilbe geschmälert und der Begriff »Flüchtling« tendiert dazu, die Notlage und die Betroffenen zu verniedlichen und herabzuwürdigen3. Vor dem inneren Auge entsteht das Bild einer deformierten Kreatur: missgestaltet, kriechend, hilflos. Das Substantiv Flucht ist ebenfalls problematisch. Es ist negativ besetzt. »Nach unserem […] Sprachempfinden ist Flucht immer ein Zeichen von […] Feigheit. Der Tapfere flieht nicht, der Tapfere hält aus.«4 Der Bezeichnung »Flüchtling« liegt damit auch das Bild des Feiglings inne.
Nicht in dieses Bild passen Menschen, die in einem gehobenen Mittelklassewagen ihr Land verlassen und mit dem neuesten Handy telefonieren. Die ihre Kinder per Zoom am Unterricht im Herkunftsland teilnehmen lassen und selbstbestimmt und aktiv zu Behörden gehen, um Hilfe zu beantragen, oder nach Hause reisen, weil sie Ehemänner, Mutter, Vater, Großeltern oder Geschwister seit Monaten nicht mehr umarmt haben. Darin hat Friedrich Merz ein Problem gesehen – anders als die Bundesagentur für Arbeit, die für Sozialleistungen zuständige Behörde5. Und Merz hat das, was die nach Sicherheit Suchenden tun, Sozialtourismus genannt.
Du sollst dir kein Bildnis machen, das Menschen darauf festlegt, deformiert und passiv zu sein. Du sollst dir kein Bildnis machen, das anderen Lebendigkeit und Autonomie abspricht. Und: Du sollst anderen kein Bild zeichnen, das Menschen in Not pauschal Schlechtes unterstellt – schon gar nicht ohne ordentlichen Nachweis und gewiss nicht mit dem Unwort des Jahres 2013.
Unsere Sprache spielt eine wichtige Rolle. Sprache ist mächtig. Sprache produziert innere Bilder. Sie vermag zu inkludieren und zu exkludieren. Sie kann achten und missachten.
Den »Tag des Flüchtlings« würde ich deshalb anders bezeichnen: Heute ist der Tag derer, die in Sicherheit leben wollen. Die Unterscheidung zwischen »denen« und »uns« fällt damit weg und vor dem inneren Auge entsteht das Bild von Menschen, die aufrechten Ganges einer besseren Zukunft entgegengehen. #offengeht. Danke an alle, die uns das zeigen!
Es gilt das gesprochene Wort.
Pfarrer Frank-Michael Theuer (frank-michael.theuer@gep.de)
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