Allerheiligen

Shownotes

Die Andacht zum Nachlesen und -hören gibt es auch hier inklusive Download: https://rundfunk.evangelisch.de/node/12990

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Wort zum Tage im Deutschlandfunk Kultur

Pfarrer Jörg Machel

aus Berlin

Allerheiligen 01.11.2022

„Heiligenlegenden lese ich am liebsten von hinten, in der Hoffnung, am Ende einem Menschen zu begegnen.“ Mit diesem Aphorismus spricht Stanislaw Lec alle Leute an, die einen tiefgehenden Widerwillen gegen jegliche Heiligenverehrung haben.

Realistischerweise muss man wohl sagen, dass in uns allen sehr widerstrebende Tendenzen stecken. Wir sind fähig zu Liebe und zu Hass, wir können großherzig sein und kleinkariert, Schmerzen lindern und Schmerz bereiten. Ob wir uns bewähren oder versagen hängt von so vielem ab: vom Charakter, von der Erziehung, von den Umständen. Doch wer das Leben nicht nur oberflächlich kennt, sondern es in Höhen und Tiefen durchschritten hat, weiß, dass auf den Saufkumpan in der Kneipe unter Umständen mehr Verlass ist, als auf den honorigen Stammtischbruder, der sich immer so hilfsbereit gegeben hat. Man sollte also misstrauisch sein, wenn Heiligenscheine verteilt werden. Heilige sind im Zweifelsfall aus gleichem Holz geschnitzt wie wir selber. Und doch geht es mir anders als Stanislaw Lec. Ich folge ihren Lebensläufen gern, wandere mit ihnen sozusagen aus der Finsternis ins Licht. Sie mögen nicht fehlerfrei sein, sie mögen Abgründe verschweigen und ihre Biografie mag von Anhängern geschönt sein, aber in der Regel gibt es da einen Erzählstrang in ihrem Leben, der vorbildhaft ist, an dem ich mich orientieren kann, der mich ermutigt, ihnen nachzufolgen.

Aung San Suu Kyi ist eine Frau, bei der ich diese Ambivalenz besonders stark empfinde. Viele Jahre verbrachte sie wegen ihres Kampfes gegen die Militärdiktatur unter Hausarrest. Als Menschenrechtsaktivistin wurde mit dem Friedensnobelpreis geehrt. Nach einer halbwegs demokratischen Wahl wurde sie sogar die Regierungschefin von Myanmar. Doch als sie angesichts der Gräueltaten an den muslimischen Rohingya schwieg, war ich entsetzt. Inzwischen ist sie wieder inhaftiert. Von einer gescheiterten Realpolitik scheint sie zu ihren Prinzipien zurückgefunden zu haben. Sie ist Vorbild und sie ist Mahnung, beides zugleich.

Heute ist Allerheiligen, für mich als Protestant kein Festtag, aber immerhin die Erinnerung daran, dass wir Menschen brauchen, die uns Orientierung geben und uns etwas vorleben, dem es nachzueifern gilt. Um sie zu erkennen bedarf es übrigens auch gar keines Heiligenscheins. Man muss genau hinschauen, auch im eigenen Umfeld zeigen sich einzelne Exemplare. Und es mag Situationen geben, da gehören vielleicht auch Sie dazu. Wer weiß?

Es gilt das gesprochene Wort.

Pfarrer Reinhold Truß-Trautwein (reinhold.truss-trautwein@gep.de)

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