Einer trage des anderen Last

Shownotes

Die Andacht zum Nachlesen und -hören gibt es auch hier inklusive Download: https://rundfunk.evangelisch.de/node/12954

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Morgenandacht im Deutschlandfunk

Pfarrerin Melitta Müller-Hansen

aus München

Einer trage des anderen Last 12.11.2022

Ein kalter Winterabend. Im Dorf liegt dicker Schnee. Alle bleiben daheim. Das verspricht einer dieser nicht enden wollenden langweiligen Abende zu werden. Dann beschließen die Eltern doch, den langen Weg auf sich zu nehmen, um die Großeltern zu besuchen. Wir Kinder dürfen mit und die Freude ist groß. Es wird so, wie immer. Ich kann mich an keine Details von diesem Abend erinnern. Nur dieses eine weiß ich bis heute noch: Auf dem Nachhauseweg hat Vater nach langem Bitten und Betteln – Es ist so kalt! Ich kann nicht laufen! Kannst du mich bitte tragen… - da hat mein Vater mich auf die Schultern genommen. Sparsam mit Zärtlichkeiten, wie er war, habe ich mir diese knappe halbe Stunde im Gedächtnis bewahrt. Der starke Vater trägt mich auf seinen Schultern. Ich schlinge die Arme um ihn. Da ist Nähe, da ist Geborgenheit.

Unser Leben beginnt damit, dass wir getragen werden als Babys – von Mutter, Vater, Tanten und Verwandten. Von Hebammen. Die Erinnerung daran setzt aber erst ein, wenn wir schon laufen können. Einer trägt mich auf seinen Schultern, in seinen Armen. Und ich erlebe bewusst, wie schön das ist. Wie leicht ich da bin, körperlich-seelisch mit diesem Menschen verbunden. Das starke Band zwischen uns ist fühlbar. Eine Urszene des Lebens. Menschen sind nicht nur Säuglinge. Menschen sind Traglinge!

Mich wundert es nicht, dass die älteste Jesus-Darstellung damit zu tun hat. Auf einem Fresko aus dem 3. Jahrhundert trägt Jesus ein Schaf auf seinen Schultern. Der gute Hirte. Natürlich ist das ein mit Bedeutung überladenes Symbol. David, Mose, das Hirtenamt sind tief verankert in der Kulturgeschichte Israels. Es ist ein göttliches Amt: der Inbegriff von Fürsorge. Die starke emotionale Wirkung hat dieses Bild aber, weil es sich mit unseren Urerfahrungen des Getragenwerdens vermischt. Und auch mit der Sehnsucht danach, ein Leben lang.

So auch der Satz, der wie eine Kurzformel christliche Ethik beschreibt: „Einer trage des anderen Last“ (Gal 6,2).

Dieser Satz des Paulus entwirft das Programm einer neuen Lebensgemeinschaft: keine Rangkämpfe, keine Missgunst. Bescheidenheit, kritische Selbstwahrnehmung, und gegenseitige Unterstützung. Du bist nicht auf Konkurrenz fixiert, du gierst nicht danach, deinen Nächsten zu übertrumpfen und von ihm angehimmelt zu werden. Du bleibst bei dir. Du nimmst dich selbst wahr in Stärken und Schwächen. Mit deinen Bürden. Und erkennst: der andere ist wie du. Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen. Unterstützung statt Konkurrenz. In so einer Gemeinschaft lässt sich gut leben. Das macht eine Gemeinschaft reich. Nicht allein im materiellen Sinn. Sondern als Zufriedenheit, als gutes Leben.

Seit ein paar Jahren diskutieren Wissenschaftler und Politiker, Politikerinnen darüber, wie der Reichtum eines Landes bemessen werden kann. Es reicht nicht mehr aus, das Bruttoinlandsprodukt anzugeben, also wie das Land aus wirtschaftlicher Perspektive dasteht. Das sagt noch nichts darüber aus, ob Menschen in Wohlstand leben können, ob es der Natur gut geht, ob die Gesellschaft zusammenhält. Unbezahlte Arbeit, Care-Arbeit, bürgerliches Engagement, der Erhalt von Natur ist nicht in diesen Zahlen erfasst. Künftig sollen in den Jahreswirtschaftsbericht diese anderen Faktoren einfließen, um etwas über die Entwicklung des Wohlstands auszusagen. Und das ist ein großer kultureller Fortschritt.

Für mich sind Politikerinnen und Politiker in hohem Maße glaubwürdig, die das im Blick haben. Andere, die das Konkurrenzmodell und allein den wirtschaftlichen Fortschritt heraufbeschwören, bekommen mein Vertrauen nicht. Das ist eine Politik von vorgestern. Einer trage des anderen Last!

Es gilt das gesprochene Wort.

Pfarrer Frank-Michael Theuer (frank-michael.theuer@gep.de)

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