Sehen und Gesehen werden

Shownotes

Die Andacht zum Nachlesen und -hören gibt es auch hier inklusive Download: https://rundfunk.evangelisch.de/node/13102

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Morgenandacht im Deutschlandfunk

Pfarrerin Angela Rinn

aus Mainz

Sehen und Gesehen werden 05.01.2023

Du bist ein Gott, der mich sieht. Das ist die Jahreslosung für das Neue Jahr 2023. Sie steht ganz am Anfang der Bibel im 1. Buch Mose.

Das sind Bibelworte, die jedes Kind erfassen kann. Nicht dunkel und rätselhaft, sondern erfreulich klar und verständlich. Du bist ein Gott, der mich sieht. Wobei schon Kinder die Ambivalenz spüren können: Es ist nicht immer angenehm, gesehen zu werden. Erwachsene assoziieren auch „Big Brother is watching you“. Im ursprünglichen Kontext sind es aber Hoffnungsworte. Gesprochen von einer Frau in einer ziemlich ausweglosen Situation. Sie darf plötzlich feststellen: Ich bin nicht verloren. Du bist ein Gott, der mich sieht. Du weißt einen Weg für mich.

Du siehst mich, dass könnte man auch übersetzen mit: Du nimmst mich wahr. Und das ist etwas, wonach sich jeder Mensch sehnt, was jeder Mensch von Geburt an braucht: Wahrgenommen zu werden.

Eine schöne Überschrift für das Neue Jahr: Du siehst mich, Gott, wenn es mir gut geht, wenn ich die Tage genießen will und mein Glück auskosten mag. Vor dir darf ich mein Leben feiern! Du siehst mich, Gott, wenn es mir gut geht, wenn ich die Tage genießen will und mein Glück auskosten mag. Vor dir darf ich mein Leben feiern! Du siehst mich, du nimmst mich wahr, Gott, auch wenn mir der Wind des Lebens kalt ins Gesicht wehen wird.

Ja – und meinetwegen auch: Du nimmst wahr, wo ich mich verrennen werde in diesem Jahr. Du siehst mich, wenn ich mich verstecken will oder mich drücken will vor den Herausforderungen des Lebens. Es wäre wunderbar, wenn ich dann – wie die Frau aus der Bibel – einen Ausweg erkennen darf. Du bist ein Gott, der mich sieht.

Bedingungen werden nicht gestellt. Du siehst mich: das gilt ohne Wenn und Aber. Bedingungen würden das gegenseitige Vertrauen nur klein machen, vielleicht sogar zerstören. Gott stellt keine Bedingungen. Und deshalb ist dieser Blick Gottes ein Mutmachwort, selbst wenn ich im Neuen Jahr einmal im Dunkeln tappen sollte. Du siehst mich, auch wenn ich sonst keinen Menschen sehe – oder meine, dass mich niemand wahrnimmt.

Du bist ein Gott, der mich sieht. Da gewinne ich den Mut, auch etwas zu riskieren.

Wie wäre es mit einem neuen Blick auf mein Leben, der meine eingefleischten Sehgewohnheiten verändert? Ich könnte mich auf neue Wege trauen und mein Leben aus einer ganz anderen Perspektive betrachten. Die Aussicht an einem bislang unbekannten Ort ist möglicherweise berauschend schön. Ich könnte einmal eine rosarote Brille aufzusetzen, wenn ich sonst nur Grau trage. Oder ich entdecke, wie sich etwas mit der Lupe analysieren lässt. Ich nehme dich wahr, sagt Gott. Ich sehe dich, was auch immer du in diesem Jahr wagen möchtest.

Ich sehe dich. Ich gebe dir aber keine Glücks- und auch keine Erfolgsgarantie. Es kann weh tun, eine neue Perspektive zu wagen. Allerdings: ich werde dich nie aus den Augen verlieren, und das wirst du spüren dürfen.

Du bist ein Gott, der mich sieht.

In der hebräischen und in der deutschen Sprache haben sehen und erkennen viel mit Liebe zu tun. Wen ich liebe, der wird mir zum Augenstern, ich achte auf ihn wie auf meinen Augapfel. Und auch der Respekt füreinander hat mit dem Sehen zu tun. Denn respicere heißt zurückschauen, also dem Blick eines anderen Menschen respektvoll mit einem Blick auf Augenhöhe zu begegnen. Ich übersehe den anderen nicht oder schaue an ihm vorbei. Ich sehe ihn an. Mit Respekt.

Du bist ein Gott, der mich sieht. Welch grandiose Vorstellung! Gott erweist seinen Menschenkindern den Respekt des klaren Blicks, den Respekt, sie wahrzunehmen, so gottverlassen sie sich auch vorkommen können. Er sieht sie. Und er liebt sie, so rätselhaft das aus menschlicher Perspektive erscheinen mag.

Du bist ein Gott, der mich sieht.

Ich wünsche Ihnen allen ein gesegnetes Neues Jahr 2023. Mit erstaunlichen, wundervollen, berauschenden Perspektiven.

Es gilt das gesprochene Wort.

Pfarrer Frank-Michael Theuer (frank-michael.theuer@gep.de)

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