Kaiphas

Shownotes

Die Andacht zum Nachlesen und -hören gibt es auch hier inklusive Download: https://rundfunk.evangelisch.de/node/13347

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Morgenandacht im Deutschlandfunk

Pfarrer Jörg Machel

aus Berlin

Kaiphas 15.04.2023

Die Passage aus dem Johannesevangelium liest sich wie das Protokoll aus einem geheimen Staatsarchiv. Irgendeinem. Es könnte in Berlin, in Moskau, in Peking, in Washington, in Teheran, irgendwo verfertigt sein, an einem beliebigen anderen Ort. Überliefert ist es aus Jerusalem und zugeschrieben wird es dem Hohenpriester Kaiphas: „Was tun wir? Dieser Mensch tut viele Zeichen. Lassen wir ihn gewähren, dann werden sie alle an ihn glauben, und dann kommen die Römer und nehmen uns Tempel und Volk… Ihr wisst nichts; ihr bedenkt nicht:

Es ist besser für euch, ein Mensch sterbe für das Volk, als dass das ganze Volk verderbe.“ (Joh 11, 47ff)

Ja, so funktionieren die Gesetze von Macht und Machterhalt. Man wägt ab, man schaut auf die möglichen Konsequenzen und fällt Entscheidungen. Lassen wir die Sache laufen, dann schlittern wir in die Katastrophe. Für Kaiphas geht es dabei gar nicht um Jesus. Seinen Namen nimmt er nicht einmal in den Mund. Es geht um die Römer und um die Sicherung des Status quo. Man hat sich arrangiert mit den Besatzern, jede Irritation kann in die Katastrophe führen. In dieser Logik weiß man, was zu tun ist.

„Ja, es ist besser für euch, ein Mensch sterbe für das Volk, als dass das ganze Volk verderbe.“

Der Eine geopfert für die Vielen. Die Rechnung klingt moralisch. Jedes Ethikseminar und selbst die Programmierung eines autonom fahrenden Autos muss sich mit dieser Frage beschäftigen. Weicht das Auto der Kindergruppe aus, die die Kreuzung überquert; und überfährt den einzelnen Fußgänger auf dem Bürgersteig - der Eine für die Vielen?

Aber ist es tatsächlich so, dass Menschenleben summiert und gegeneinander aufgewogen werden können?

Ferdinand von Schirach hat das Gedankenexperiment mit seinem Stück „Terror“ auf die Bühne gebracht und das Publikum muss entscheiden: Ist der Abschuss einer Passagiermaschine zu rechtfertigen, wenn damit der Einschlag dieses Flugzeugs in ein Stadion verhindert wird? In der Vorstellung, die ich besuchte, waren beide Positionen etwa gleich stark vertreten.

Meist geht es allerdings gar nicht um Leben und Tod, meist geht es um eine Güterabwägung: Wieviel darf ich mir und anderen an Schlechtem zumuten, um das noch Schlechtere zu vermeiden?

Bei den Maßnahmen zur Corona-Pandemie wurde die Diskussion heftig und kontrovers geführt. Es gab unversöhnliche Frontlinien. Panikmache riefen die Einen, verantwortungslose Ignoranz bekamen sie zur Antwort.

Jetzt, wo man auf die Pandemie-Jahre zurückblicken kann, fällt es etwas leichter, Richtiges von Falschem zu unterscheiden. Selbstkritisch muss ich eingestehen: Die Kirchen haben es, nach meinem Urteil, mit ihrer staatstragenden Haltung übertrieben. Zu wenig sind wir Kirchenleute als Anwalt der Schwachen aufgetreten. Als man die Altenheime über Monate für Angehörigenbesuche sperrte und selbst Sterbende isolierte, da hätten wir lauter protestieren müssen. Stattdessen standen die wenigen mahnenden Seelsorgerinnen und Seelsorger wie verantwortungslose Querulanten da.

Die Liste solcher Abwägungen ließe sich beliebig erweitern. Es bleibt der Grundkonflikt: Darf man das Leben, die Gesundheit, die Freiheit des Einen für das Wohl der Vielen opfern? Jede schnelle Antwort ist unlauter, so meine ich. Zumal das verfolgte Ziel nur selten erreicht wird.

Das musste übrigens auch der Hohepriester Kaiphas feststellen. Er wollte den Ruhestörer Jesus von Nazareth mit der Hinrichtung endgültig zum Schweigen bringen. Aber mit seinem Handeln hat er die Grundlage für das Christentum gelegt. Und unbeabsichtigt hat er sich selbst ein Denkmal gesetzt: Nur wegen der Passions- und Ostergeschichte denken wir heute an ihn.

Es gilt das gesprochene Wort.

Pfarrer Frank-Michael Theuer (frank-michael.theuer@gep.de)

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