Dem Wunder die Hand hinhalten

Shownotes

Die Andacht zum Nachlesen und -hören gibt es auch hier inklusive Download: https://rundfunk.evangelisch.de/node/13756

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Morgenandacht im Deutschlandfunk

Pfarrerin Annette Bassler

aus Mainz

Dem Wunder die Hand hinhalten 07.12.2023

Was für eine schöne Frau, denke ich, als ich ihr gegenübersitze. Ihr Profil erinnert mich ein bisschen an das von Audrey Hepburn. Ihr Körper schmal und zart. Nur die Furchen in ihrem Gesicht erzählen von einem langen, bewegten Leben. Hilde Domin, eine der bedeutendsten Lyrikerinnen der Nachkriegszeit, hatte mich in ihr Wohnzimmer eingeladen zum Gespräch. Und ich war sehr aufgeregt. Weil ihre Gedichte für mich das pure Evangelium sind in einer nichtreligiösen Sprache. Die Begegnung mit ihr liegt schon viele Jahre zurück. Aber ich sehe sie noch genau vor mir - diese zarte, energische Frau. Damals 95 Jahre alt und noch immer unterwegs, um Vorträge und Lesungen zu halten.

„Nicht müde werden, sondern dem Wunder, leise, wie einem Vogel die Hand hinhalten.“ Das ist so ein Satz von ihr. Diese Erkenntnis hat sie sich selber hart abgerungen. Als die Nazis an die Macht kamen, mussten ihre Eltern nach England emigrieren. Sie selber studierte als sogenannte Halbjüdin in Rom. Dort entkam nur knapp der Verhaftung durch die Gestapo. In letzter Minute konnte sie mit ihrem Mann in die Dominikanische Republik fliehen. Deshalb auch ihr Name „Domin“.

In ihrem Wohnzimmer gibt es keine Bilder von Kindern oder Enkeln. Als ich vorsichtig nachfrage, wird ihre Stimme schmal. „Man wird nicht schwanger, wenn man vor der Gestapo flüchtet mit einer Zyankalikapsel in der Tasche.“

Aber dann, die Jahre in der Karibik. Sonne, Palmen, Traumstrände- war das nicht heilsam? Nein, war es nicht. Sie hatte brennende Sehnsucht nach ihrer Familie, nach ihrer Muttersprache, nach Musik, Literatur, Festen mit Freunden.

So also ist das Lebensgefühl im Exil, denke ich. Sie kam sich vor wie ein Baum ohne Wurzeln. Der irgendwie versucht zu überleben. Später beschreibt sie das so: „Man muss weggehen können und doch sein wie ein Baum. Als zöge die Landschaft und wir stünden fest.“

Wie wird man Lyrikerin? Frage ich sie. Sie erzählt von dem Tag, als sie ein Telegramm in Händen hielt. Die Nachricht vom Tod ihrer Mutter. Da wollte sie nichts mehr, gar nichts. Hat sich irgendwo ins Gras gelegt und wollte nur noch sterben.

Aber was dann kam, war nicht der Tod. Es kamen ihr Worte. Die Worte ihres ersten Gedichtes. Von da an hat sie sich ins Leben zurückgedichtet.

„Ich richte mir ein Zimmer ein in der Luft unter den Akrobaten und Vögeln:

mein Bett auf dem Trapez des Gefühlswie ein Nest im Wind auf der äußersten Spitze des Zweigs…“

So beschreibt sie ihr Lebensgefühl. Es ist das Gefühl einer Frau, für die es auf der Erde keinen wirklich sicheren Ort gibt. Die sich aber dennoch, auf wundersame Weise gehalten und geborgen fühlt.

Mich erinnert das an das Lebensgefühl von Jesus. „Füchse haben Höhlen“, hat er gesagt, „aber der Menschensohn hat nichts, wohin er sein Haupt legen könnte.“ (Matthäus 8,20) Für Jesus ist seine Liebe zu Gott, zu seinem Vater im Himmel, das „Zimmer in der Luft“, in dem er sich geborgen weiß. Und alle, die ihm nachfolgen, tun es auch. Und sie machen die Erfahrung: aus diesem „Zimmer in der Luft“ kann man nicht tiefer fallen als in Gottes Hand.

Was war das Wunder, dem Hilde Domin leise, wie einem Vogel, die Hand hingehalten hat? Ihre Begabung zu schreiben? Ihre Beharrlichkeit, nicht aufzugeben?

Ich glaube, es war diese äußere und innere Bewegung: die Hand ausstrecken und das Herz offenhalten. Zulassen, dass der eigene Schmerz verwandelt wird. Dass er zum Segen wird. Für sich selbst und für Andere.

Am Ende unseres Gesprächs hat Hilde Domin mich eingeladen, sie in die Stadt zu begleiten zum Mittagessen. Und weil sie nicht mehr so sicher auf den Beinen war, hat sie sich bei mir untergehakt. In einem Gedicht schrieb sie: 

„Ich setzte meinen Fuß in die Luft und siehe, sie trug.“

Es gilt das gesprochene Wort.

Redaktion: Pfarrer Martin Vorländer (martin.vorlaender@gep.de)

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