Barmherziger Samariter

Shownotes

Die Andacht zum Nachlesen und -hören gibt es auch hier inklusive Download: https://rundfunk.evangelisch.de/node/14014

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Wort zum Tage im Deutschlandfunk Kultur

Pfarrerin Barbara Manterfeld-Wormit

aus Berlin

Barmherziger Samariter 12.01.2024

Manche Entscheidung triffst du im Bruchteil einer Sekunde. Ich sitze im Auto. Es ist dunkel, ein später Winternachmittag. Auf der Rückbank sitzen die Kinder. Der Verkehr ist unübersichtlich, eine mehrspurige Straße, dichter Abbiegerverkehr. Plötzlich taucht eine Gestalt aus der Dunkelheit auf: Ein Mann steht da, fast wie ein Geist. Er schwankt. Ich weiß sofort: Er gehört hier nicht hin. Irgendetwas ist seltsam, da stimmt etwas nicht, denke ich. Der Mann hat die Absperrung überwunden, die den Fußgängerweg vom Autoverkehr trennt. Es gibt keine Ampel weit und breit. Der Verkehr ist viel zu stark, um einfach so zu Fuß auf die andere Seite zu gelangen. Noch am Steuer durchzuckt mich der Gedanke: Soll ich anhalten? Ist der Mann betrunken, orientierungslos oder verzweifelt? Gleichzeitig schießen durch meinen Kopf andere Überlegungen: Wo soll ich anhalten und vor allem wie? Zu spät und zu gefährlich. Bei diesen letzten Gedanken ist die gespenstische Szene schon vorbei, die Gestalt verschwunden. An der nächsten Ampel denke ich noch: zurückfahren oder nicht? Anhalten, aussteigen, hinlaufen?

Ich bin weitergefahren. Es gab gute Gründe und vielleicht hatte ich mich auch getäuscht. Bestimmt war der Mann gar nicht in Gefahr gewesen und wäre bloß ausfallend geworden. Sicher war er längst weg – heil auf der anderen Straßenseite angekommen oder von alleine umgekehrt. Trotzdem ist dieses Bild in meinem Kopf geblieben, wie er plötzlich dastand und mich für einen Moment angeschaut hat. Zuhause erzähle ich davon. Mein Mann sieht mich an und sagt nur: Du warst eben nicht der Samariter. Er sagt das nicht vorwurfsvoll, eher als nüchterne Feststellung: Man kann halt nicht immer und überall helfen – erst recht nicht in einer Millionenstadt wie Berlin, wo so viele Hilfe brauchen.

Es stimmt: Ich war nicht der barmherzige Samariter. Der hätte gehalten und sich gekümmert wie der Mann in der biblischen Geschichte. Der sieht einen am Wegesrand, der unter die Räuber gefallen ist, und hilft spontan. Jesus hat die Geschichte erzählt. Ich war kein Samariter. Ich war vielleicht vernünftig, aber ich war nicht barmherzig.

Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe – lautet die Jahreslosung aus der Bibel. Vielleicht kann ich es üben. Und vielleicht beim nächsten Mal mutiger sein. Gelegenheiten gibt es genug.

Es gilt das gesprochene Wort.

Redaktion: Pfarrer Martin Vorländer (martin.vorlaender@gep.de)

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