Du stilles Geschrei

Shownotes

Die Andacht zum Nachlesen und -hören gibt es auch hier inklusive Download: https://rundfunk.evangelisch.de/node/14020

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Wort zum Tage im Deutschlandfunk Kultur

Melitta Müller-Hansen

aus München

Du stilles Geschrei 26.01.2024

„Vater unser im Himmel“. Im Gottesdienst, am Taufstein, am Grab unserer Lieben gibt dieses Gebet Kraft und Trost. Und Gott als „Vater“ anzurufen ist immer noch vertraut und liebevoll für viele. Ich habe von einem Gottes-Namen gelesen, der etwas anderes ausstrahlt. Da heißt Gott: „Du stilles Geschrei“. Und alles in mir sagt, ja, das ist in dieser Zeit ein guter Name für Gott.

In einem anonym überlieferten Brief aus dem späten Mittelalter taucht er zum ersten Mal auf. Vielleicht hat eine Seelsorgerin ihn geschrieben an einen Menschen in großer Zerrissenheit. Denn so beginnt der Brief:

„Mein Kind, sei geduldig und lass dich, dieweil man dir Gott nicht aus dem Grunde deines Herzens gräbt.“

Da wird einem Menschen Gott fast aus dem Grunde des Herzens gegraben. Die Seelsorgerin spricht ihn zärtlich an – mein Kind. Und empfiehlt ihm: Lass dich, vertrau dich an, lass dich fallen. Es wird nicht gelingen, dir Gott aus deinem Herzen zu graben. Im weiteren Brief bietet die Seelsorgerin ihm eine Reihe von Gottesbildern an: Brunnen, wer kann dich erschöpfen? Lichter Glanz - bloße Verborgenheit. Paradoxe Bilder. Keine glatten Lösungen. Und Ohnmacht statt Herrschaft.

Am Ende steht dieser Name, dieses Bild: „Du stilles Geschrei“. Etwas Stilles und doch ein Schrei. Gott befiehlt hier nicht wie ein König oder ein Herrscher. Gott ist ein Schrei in der Welt. In uns selbst. Ich höre diesen Schrei seit einiger Zeit. Still in mir, als stünde ich mit geöffnetem Mund da, und kein Ton kommt heraus. Dieser Gottesname entspricht genau meiner Gefühlslage. Und vermutlich auch der Gefühlslage vieler Menschen, die unsägliches Leid getroffen hat. In Israel. In Gaza. In der Ukraine…

Menschen, denen man Gott fast aus dem Grunde ihres Herzens gräbt. Es soll nicht geschehen. Paradoxe Gottesnamen können helfen. Du stilles Geschrei – da ist Gott das Verwundbare in der Welt, in jedem Menschen. Und „stilles Geschrei“ hält etwas zusammen, was auseinanderzubrechen droht und mich manchmal zerreißt: Meine Verwundbarkeit und die Härte des Lebens in dieser Welt. Ich bring es manchmal nicht mehr zusammen. Dieser Gottesname ist Klage und Protest zugleich. Ein Weinen, ein Aushalten, ein Ja zu diesem Leben, zu dem Leiden gehört. Ein trotziges Ja.

„Du stilles Geschrei“. Hilf mir und allen Menschen, unsere Verwundbarkeit niemals zu verraten oder zu vergessen. Hör nicht auf, in mir zu rufen!

Es gilt das gesprochene Wort.

Redaktion: Pfarrer Martin Vorländer (martin.vorlaender@gep.de)

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