Sohlen und Seelen

Shownotes

Die Andacht zum Nachlesen und -hören gibt es auch hier inklusive Download: https://rundfunk.evangelisch.de/node/14393

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Wort zum Tage im Deutschlandfunk Kultur

Evamaria Bohle

aus Berlin

Sohlen und Seelen 06.08.2024

In Morgeneile auf dem Weg zur Tram-Haltestelle geraten mir plötzlich zwei bloße Füße ins Blickfeld. Genauer: Fußsohlen. Fersen, Ballen, die zehn Ovale der Zehen. „Achtung Mensch!“, sagen sie.

Da schläft einer bäuchlings in einem Hauseingang, und nur seine Füße lugen unter der Decke hervor. Hier auf dem Bürgersteig wirken sie sehr nackt. Und ich fühle mich plötzlich, als würde ich durch ein fremdes Schlafzimmer hasten, quasi am Fußende eines Bettes vorbei. 

Der Schlafplatz ist klug gewählt: Das Restaurant, zu dem der Eingang gehört, öffnet erst mittags, und die bepflanzten Kübel rechts und links schaffen ein wenig Privatsphäre. Um den Menschen herum Verkehrslärm, vorbeieilende Passanten, rasende Radfahrerinnen, die Geräusche der U-Bahn: Großstadt-Vibes, doch er schläft. 

Sechs- bis zehntausend Menschen sollen in Berlin auf der Straße leben. Schätzungsweise. Zahlenmäßig ist das die Bevölkerung einer Kleinstadt. Früher sprach man ja von Seelen, wenn Einwohner gemeint waren. Für Seelen, die ohne Wohnsitz leben, gibt es in Deutschland nur Schätzungen, keine Statistik.

„Der Menschensohn hat keinen Platz, an dem er sich ausruhen kann." Worte Jesu aus dem Evangelium blitzen in mir auf. Ob Jesus auch auf dem Bauch geschlafen hat, in eine Decke gehüllt, so dass nur die bloßen Füße zu sehen sind? Wohnungslosigkeit ist jedenfalls Teil seines Lebensweges. Es gibt sehr viele Gründe, warum jemand kein Obdach hat. Allen gemeinsam ist: immer angewiesen zu sein auf die Freundlichkeit der Mitmenschen.

Längst sitze ich in der Straßenbahn. Um mich herum Sneaker und Sandalen. Eine nackte Fußsohle ist im öffentlichen Raum der Stadt im Grunde nicht vorgesehen. Vielleicht, weil ihre Nacktheit so etwas beunruhigend Wehrloses ausstrahlt, an das niemand gerne erinnert wird. Barfüßler sind wir doch alle, trotz unserer Schuhe. Nur Haut und Knochen und Muskeln, Herz und Hirn, Hände und Füße, zehn Finger, zehn Zehen. Mit Geist beseelt. Denkend, träumend, verdauend und irgendwann sterbend. 

Wer von uns morgen auf der Straße schläft, und wer noch ein Dach über dem Kopf hat…- das ist nicht ausgemacht. Aber: Wir gehören alle zum gleichen Stamm. Menschenkinder, G’tteskinder. Von der Wiege bis zur Bahre - Seelen- und Sohlenverwandte. Das englische Wort für Fuß- oder Schuhsohle „Sole“ - klingt ja fast genauso wie die Vokabel für Seele - Soul. Deswegen: Seelen- und Sohlenverwandte sind wir, könnten wir sein. Alle Menschen, verletzbar und zart.

Es gilt das gesprochene Wort.

Redaktion: Pfarrer Martin Vorländer (martin.vorlaender@gep.de)

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