9. November
Shownotes
Die Andacht zum Nachlesen und -hören gibt es auch hier inklusive Download: https://rundfunk.evangelisch.de/node/14371
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Morgenandacht im Deutschlandfunk
Pfarrerin Silke Niemeyer
aus Münster
9. November09.11.2024
Der 9. November hätte es verdient, ein Feiertag zu sein. Ein Gedenk- und Feiertag.
9. November 1848: „Ich sterbe für die Freiheit“, ruft Robert Blum, der Abgeordnete des ersten deutschen Parlaments in der Frankfurter Paulskirche. Dann erschießt ihn das Militär. Mit ihm stirbt die freie Republik.
9. November 1918: „Es lebe die deutsche Republik!“, ruft Philipp Scheidemann vom Balkon des Reichtags, und in Deutschland endet das Kaiserreich, die Demokratie beginnt.
9. November 1923: „Die Regierung der Novemberverbrecher in Berlin ist heute für abgesetzt erklärt worden“, plakatiert Hitler und putscht gegen die junge Demokratie.
9. November 1938: „Juda verrecke“ krakeelen sie mit Steinen und Lunten in der Hand, stinknormale Deutsche mit und ohne Uniform, und der systematische Terror gegen die jüdische Bevölkerung wird für alle sichtbar.
Der Vorabend des 9. November 1939: „Ich habe den Krieg verhindern wollen“, sagt Georg Elser. Sein Versuch, Hitler mit einer selbstgebauten Bombe im Münchner Bürgerbräukeller zu töten, ist gescheitert.
9. November 1989: „Das tritt nach meiner Kenntnis ... ist das sofort, unverzüglich“, stammelt SED-Politbüromitglied Günter Schabowski bei einer Presskonferenz, und die Tore der Berliner Mauer öffnen sich.
Welcher Tag hätte es mehr verdient, ein Gedenk- und Feiertag zu sein, als der 9. November? Aber er ist es nicht. Vielleicht, weil er einfach zu viele Anlässe zum Gedenken hat. Aus ihm glitzert das Licht, und aus ihm bricht die Finsternis deutscher Geschichte. Was soll man am 9. November? Dankbar sein oder beschämt? Die Korken knallen lassen oder still sein?
Manche nennen den 9. November den Schicksalstag der Deutschen. Die vielen Wendungen, die die Geschichte an diesem Tag genommen hat, legen das nahe. Denn vom Schicksal weiß man ja, dass es wendisch wie das Wetter ist.
Genau deshalb mag ich die Bezeichnung Schicksalstag nicht. Was am 9. November geschehen ist, ist nicht Schicksal. Es war nicht unausweichlich. Es war kein Zufall. Es war auch nicht vorherbestimmt. Es waren Menschen am Werk, die gehandelt haben, mutig oder mörderisch, widerständig oder gehorsam, wachsam oder wegschauend. Geschichte geschieht nicht, Geschichte wird entschieden. Was wie Schicksal aussieht, ist die Summe der Entscheidungen vieler Einzelner, die die Wahl haben: Wo mache ich mit, wo nicht?
Das gilt auch für die, die meinen, sie hätten keine Wahl, weil sie zu ohnmächtig, zu arm, zu allein sind. Dafür steht Robert Blum, der Abgeordnete in der Frankfurter Paulskirche. Er war der sehbehinderte Sohn eines Dienstmädchens. Dafür steht Georg Elser, der ein Attentat auf Hitler versuchte. Er war ein uneheliches Kind, in dessen Kinderstube Armut und Suff herrschten. Dafür stehen auf der anderen, finsteren Seite die ganz normalen Männer, die Steine in Fensterscheiben geworfen und „Juden raus“ an die Wände gepinselt haben, ebenso wie die guten Hausfrauen, die ihre Nachbarn denunziert haben. Niemand hat sie gezwungen zu dem, was sie taten.
Der 9. November ist der „Tag der Deutschen Aufklärung ... über sich selbst“. Er befreit „aus der selbstverschuldeten historischen Unwissenheit“. So formuliert es der Journalist Heribert Prantl. Er schreibt: Der 9. November „steht für Hell und Dunkel. Er ist das deutsche Datum schlechthin. Er ist ein Feiertag nicht zum Feiern, sondern zum Lernen, wie Demokratie gebaut und wie sie zerstört werden kann. Er ist kein Würstelbuden- und Knallkorken-Tag, sondern ein Nachdenktag“. (1)
Jeder Tag kann ein 9. November-Tag sein, ein Tag, an dem ich gefordert bin, nachzudenken und mich zu entscheiden, wo ich stehen will. Ich nehme mir dazu ein paar Sätze von Paulus aus der Bibel zu Herzen und schreibe sie mir ins Gewissen:
„Lebt nicht in Finsternis, so dass euch der Tag wie ein Dieb überfällt. Denn ihr alle seid Kinder des Lichts und Kinder des Tages. Wir gehören weder der Nacht noch der Finsternis. Also lasst uns nicht schlafen wie die anderen, sondern wachen und nüchtern sein.“ (1. Thessalonicher 5, 4-6).
Es gilt das gesprochene Wort.
Literaturangaben:
Zitate entnommen aus: Heribert Prantl, Mensch Prantl. Ein autobiographisches Kalendarium, München 2023, S.253 und 254.
Redaktion: Pfarrer Martin Vorländer (martin.vorlaender@gep.de)
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