Wie gerufen

Shownotes

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Wort zum Tage im Deutschlandfunk Kultur

Vikarin Anna Weingart

aus München

Wie gerufen 09.01.2025

Der Dichter Hermann Wallmann schreibt:

Heute kam das Licht plötzlich ins Haus geschneit und ich hatte nicht mal das bisschen Zeit

mir durchs Haar zu fahren den Hemdknopf zu schließen Contenance zu bewahren den Schock zu genießen

Licht hat sich breit gemacht stand auf den Stufen als hätte es Post gebracht und käm wie gerufen (1)

Ein Freudenschock. Licht kommt plötzlich ins Haus geschneit. Wäre ich dafür bereit? Ich will oft gar nicht überrascht werden. Ich will meinen vorhersehbaren Alltag. Der fordert mich schon genug. Da brauche ich keine Überraschungen und niemanden, der sich breit macht, selbst wenn es das Licht höchstpersönlich ist.

Natürlich wäre es mir allemal lieber, das Licht würde einfallen auf meinen Stufen als die Dunkelheit. Aber bestellt habe ich keinen von beiden. Wenn also morgen das Licht an meiner Tür klingeln würde, dann käme mir das vor allem: recht ungelegen. Ich muss doch noch dies und das erledigen und hab‘s grad eilig und überhaupt…

heute kam das licht plötzlich ins haus geschneit ich hatte nicht mal das bisschen Zeit,

mir durchs Haar zu fahren meinen Hemdknopf zu schließen

Und ihm höflich die Tür zu öffnen.

Gerade jetzt im Januar! Da rechnet doch niemand mit dem Licht vor der Haustür. Es ist grau und diesig, neblig und verregnet und das Licht so fern wie nur irgendwas. Im Advent würde ich eventuell noch damit rechnen, vielleicht auch an Weihnachten – aber doch nicht im nüchternen Januar.

Aber da stand ich, ungekämmt und mit offenem Hemd plötzlich dem Licht gegenüber. Und die erste Frage, die mir herausrutschte, war womöglich etwas unhöflich: „Wo kommst du denn her? Jetzt, mitten im Januar?!“

Die unerwartete Helligkeit vor meiner Tür war wie ein Schock. Fassung bewahren, „Contenance“ in dem Moment ein Fremdwort. Aber der Schock tat auch gut. Saukalt war es da draußen. Aber das Licht schneite wie warme Flocken auf mich herab. Von meiner unhöflichen Begrüßung völlig ungerührt, ließ es sich vom Wind in den Hausflur hineinwehen. Helle, leichte Lichtflocken wehten um meine Füße und glitzerten im Licht der Straßenlaterne.

Licht hat sich breit gemacht stand auf den Stufen als hätte es Post gebracht und käm wie gerufen.

Da stand es, das Licht. Mitten auf meinen Türstufen als wäre es die normalste Sache der Welt. Als wollte es nur eben die Post bringen. Es schwieg rücksichtsvoll, wartend. „Komm doch rein!“, sagte ich endlich. „Eigentlich kommst du wie gerufen.“

Es gilt das gesprochene Wort

Literaturangaben:

(1) Hermann Wallmann, Wie gerufen. In: Der andere Advent 2019.

Redaktion: Pfarrer Martin Vorländer (martin.vorlaender@gep.de)

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