Etty Hillesum

Shownotes

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Morgenandacht im Deutschlandfunk

Pfarrer Tim Jochen Kahlen

aus Völklingen

Etty Hillesum 15.01.2025

„Viele, die derzeit über Ungerechtigkeiten empört sind, sind eigentlich nur empört, weil diese Ungerechtigkeiten ihnen widerfahren. Es handelt sich also nicht um eine echte, tief verwurzelte Empörung.“ (1) Das schreibt Etty Hillesum, 28 Jahre jung, in ihr Tagebuch. Es ist der 4. Juli 1942.

Ich lebe mehr als ein Menschenleben später und in Zeiten wachsender Empörung. So viele Enttäuschte. So viel Klage über Ungerechtigkeit. Empörung ist ja auch der Treibstoff der sozialen Medien. Empörung kann Wahlen entscheiden.

Etty Hillesum gibt mir zu denken. Sie hinterfragt die Empörung vieler. Diese Menschen „…sind eigentlich nur empört, weil die Ungerechtigkeiten ihnen widerfahren“. (2) Das erscheint ihr eigensinnig, nicht echt, nicht tief. Und sie fügt an: „Ich weiß, dass ich in einem Arbeitslager in drei Tagen sterben werde, ich werde mich hinlegen und sterben und das Leben trotzdem nicht ungerecht finden.“ (3) Etty Hillesum ist Jüdin.

Sie wächst in den Niederlanden der Zwanziger Jahre auf. Die Mutter stammt aus Russland. Ihr Vater arbeitet als Lehrer für alte Sprachen. Etty studiert zunächst Jura und nach bestandenem Examen Russisch. Sie lebt in Amsterdam. Mit 27, zehn Monate nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in den Niederlanden, beginnt sie ihr Tagebuch. Darin verarbeitet sie die immer klareren Anzeichen der von den Nazis geplanten Vernichtung der Jüdinnen und Juden. Sie reflektiert, dass man sie umbringen wird.

Etty engagiert sich als Helferin im Durchgangslager Westerbork. Sie will die Situation derer erleichtern, die auf den Transport in ein KZ warten. Im Sommer 1943 erlischt ihr Sonderstatus. Sie wird nun selbst Gefangene im Lager. Kurz vor der Deportation kann sie ihre Tagebücher in Sicherheit bringen.

Etty Hillesum schreibt fast täglich und entwickelt dabei ihre eigene Haltung zur Frage nach der Gerechtigkeit Gottes: Wie kann dieser Gott mein Gott bleiben - angesichts dessen, was um mich herum geschieht? Das empörende Unrecht an so vielen Menschen. Das umfassende Leid.

Etty löst sich von der Idee eines Gottes, der in den Lauf der Welt eingreifen könnte. Sie will lernen, die Welt in jedem Zustand anzunehmen, wie sie ist. Und sie will es, ohne ihren Gott zu verlieren. Am 12. Juli 1942 schreibt sie:

„Ich werde dir helfen, Gott, dass du nicht in mir zugrunde gehst […]. Aber eines wird mir immer klarer: dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen, und dadurch helfen wir uns selbst.“ Etty schreibt weiter: „Es gibt Menschen, das ist wirklich wahr, die noch im letzten Moment Staubsauger in Sicherheit bringen und Silbergabeln und Silberlöffel statt dich, mein Gott. […] Und sie sagen: Mich werden sie nicht in ihre Fänge bekommen. Und sie vergessen, dass man in niemandes Fängen ist, wenn man in deinen Armen liegt.“ (4)

Der ohnmächtige Gott, den man überreden muss, einen nicht zu verlassen. Für Etty Hillesum ist es derselbe Gott, in dessen Armen man geborgen liegt, wenn es gelingt. Diese Haltung imponiert mir. Gottes Schwäche braucht meine Stärke, damit seine Stärke in mir wachsen kann.

Ich denke, es gibt immer wieder und zu allen Zeiten Grund, sich zu empören - tief und ehrlich. Über wirkliches Unrecht, das anderen und auch mir geschieht. Aber jeden Morgen muss ich mich neu zu dieser Empörung verhalten. Ich muss meine Haltung finden.

Noch einmal Etty Hillesum: „In mir ist so ein großes Vertrauen. Nicht ein Vertrauen, dass es mir im äußeren Leben immer gut gehen wird, sondern ein Vertrauen, dass ich, auch wenn es mir schlecht geht, das Leben akzeptiere und gut finde.“ (5)

Mehr als ein Menschenleben später macht mir Ettys Vertrauen Mut, trotz aller Empörung mein Leben nicht ungerecht zu finden. Etty Hillesum wurde im Herbst 1943 in Auschwitz ermordet. Am 15. Januar 1914, heute vor 111 Jahren, wurde sie in Middelburg auf der Insel Walcheren geboren.

Es gilt das gesprochene Wort.

Literaturangaben:

(1) Hillesum, Etty, Ich will die Chronistin dieser Zeit werden. Sämtliche Tagebücher und Briefe, München 2023, 593.

(2) Hillesum, Etty, Ich will die Chronistin dieser Zeit werden. Sämtliche Tagebücher und Briefe, München 2023, 593.

(3) Hillesum, Etty, Ich will die Chronistin dieser Zeit werden. Sämtliche Tagebücher und Briefe, München 2023, 593.

(4) Hillesum, Etty, Ich will die Chronistin dieser Zeit werden. Sämtliche Tagebücher und Briefe, München 2023, 620 f.

(5) Hillesum, Etty, Ich will die Chronistin dieser Zeit werden. Sämtliche Tagebücher und Briefe, München 2023, 615.

Redaktion: Pfarrer Martin Vorländer (martin.vorlaender@gep.de)

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