Im Märchenland

Shownotes

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Wort zum Tage im Deutschlandfunk Kultur

Evamaria Bohle

aus Berlin

Im Märchenland 05.02.2025

Heute Morgen sind wir im Märchenland wachgeworden. Also dort, wo das Wünschen wirklich noch hilft, wo am Ende die verlogenen Wölfe tot sind, die bösen Königinnen in glühenden Schuhen von der Bildfläche verschwinden. Und wo das fiese Rumpelstilzchen, das aus Stroh Gold macht und deswegen meint, alles zu dürfen, sich selbst vernichtet. Es war einmal, seufzen wir erleichtert. Rotkäppchen dagegen, die Großmutter und die sieben Geißlein - alle gesund und munter. Ende gut, alles gut. Und dann kommt noch die berühmte Fee mit den drei Wünschen um die Ecke, und wir wünschen uns Frieden auf Erden, Gesundheit für alle und für jeden und jede ein Tischleindeckdich. - Oder doch Glaube, Hoffnung, Liebe?

Und dann bin ich tatsächlich aufgewacht, heute Morgen, im Märchenland: in einer geheizten Wohnung mit fließendem Wasser und gefülltem Kühlschrank. Die Nacht war ruhig, keine Sirene hat den Schlaf unterbrochen, keine Gefechtsfeuer, keine Detonationen, kein Feuersturm. Der Liebste schläft noch, er lebt, und das leise Beben des Hauses kommt nur von der U-Bahn tief unter der Erde. Menschen fahren zur Arbeit. Haben Pläne. Fast alle haben ein eigenes Bett und eine Zahnbürste. Wie märchenhaft das ist.

Auf der Kommode liegt die Wahlbenachrichtigung und erinnert daran, dass in unserem Märchenland die Macht begrenzt ist. Egal, ob die sieben Zwerge, Frau Holle oder der Teufel mit den drei goldenen Haaren gewinnt. Wir haben die Wahl. Welche Geschichte irgendwann mit „Es war einmal…“ beginnen wird, entscheiden wir mit. Und dann sagt noch jemand: „Liebt eure Feinde.“

Ich bin aufgewacht, und es duftet nach Kaffee. Kein Märchenland nirgends. Nur Alltagsgedöns. Am Küchentisch blättert das Smartphone mir schlimme Geschichten ins Gemüt, vor dem Fenster flattern die Tauben, und ich sortiere die Nachrichten. Die guten in Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. Wo ist die gute Fee nur, wenn man sie braucht? Es ist so leicht, die Hoffnung zu verlieren.

„Genau“, sagt der Engel der Zuversicht, der gerne zwischen den Zeilen der Nachrichten herumlümmelt: „Mach doch! Verliere Hoffnung. Lass sie liegen. An der Bushaltestelle, im Wartezimmer, auf dem Schulhof. Hoffnung zu verlieren, ist eine gute Idee“, wiederholt der Engel und küsst die Fee auf die Wange. Wer sucht der findet. Und dann abwarten, was wächst.

Es gilt das gesprochene Wort.

Redaktion: Pfarrer Martin Vorländer (martin.vorlaender@gep.de)

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