Wachgeküsst

Shownotes

Die Andacht zum Nachlesen und -hören gibt es auch hier inklusive Download: https://rundfunk.evangelisch.de/wort-zum-tage/14991/wachgekuesst

Transkript anzeigen

Wort zum Tage im Deutschlandfunk Kultur

Pfarrerin Barbara Manterfeld-Wormit

aus Berlin

Wachgeküsst 07.03.2025

Ich bin so müde! Jeden Morgen geht das so – vor dem ersten Kaffee geht gar nichts. Erst recht nicht zu dieser Jahreszeit zwischen Winterdepression und Frühjahrsmüdigkeit. Meinem Körper fehlt das Sonnenlicht, meiner Seele fehlt die Unbeschwertheit.

Freitagmorgen also. Ich mache mich auf den Weg ins Büro. Es sind nicht viele unterwegs. Wer kann, arbeitet im Homeoffice und spart sich den Weg mit Bus, Bahn oder Auto zur Arbeit. Ich stehe an der Haltestelle, warte auf die Straßenbahn und tue mir ein bisschen leid.

Da gesellen sich zwei Frauen zu den Wartenden. Die Mutter mag in meinem Alter sein. Sie trägt ein Kopftuch, ihre Tochter ist erwachsen – um die 20 vielleicht. Sie ist schwerstbehindert. Sie wird geschoben in einer Art Kinderwagen. Eingehüllt in eine dicke Decke blinzelt sie in die Sonne – und lacht. Sie lacht laut und mit dem ganzen Körper. Arme und Hände segeln dabei unkontrolliert durch die Luft. Alle Wartenden drehen die Köpfe, auch die, die sonst nichts mitkriegen, weil sie aufs Handy starren oder unter Kopfhörern abgetaucht sind.

Das Lachen der jungen Frau ist laut und hemmungslos. Es geht durch Kopfhörer und Straßenlärm. Es geht auch durch meinen müden Körper und weckt mich auf. Ich blicke rüber zu den beiden und sehe die Mutter an. Erst jetzt nehme ich die dunklen Ringe unter ihren Augen wahr, die grauen Haarsträhnen, die unter dem Tuch hervorschauen, die sorgenvollen Falten um den Mund.

Auch sie wacht auf in diesem Moment – gerissen aus der Morgenkälte und den Gedanken durch das laute Lachen ihrer Tochter. Sie beugt sich über sie und strahlt sie an. Dann nimmt sie deren Kopf zwischen die Hände und küsst sie zärtlich auf beide Augen.

Ich bin gerührt. Wie unbedeutend sind meine Sorgen, wie vergleichsweise läppisch meine Müdigkeit und meine Erschöpfung, wie unangemessen mein Meckern über das, was im Alltag nervt. Das Jammern und Klagen ist ja zu einem ständigen Lebensbegleiter geworden: über Streiks bei der Bahn und Müllabfuhr, über zu hohe Preise und Mieten, über politische Missstände und Fehler der anderen.

Wie groß sind dagegen der Mut und die Kraft, die manche Menschen Tag für Tag in ihrem Alltag aufbringen. Wie groß ist ihre Sorge, wie ungesehen ihre Überlastung, wie stark ihre Liebe und ihr Einsatz. Und ihr Lachen.

Ich nehme den Moment mit in den Tag. Er holt mich wieder auf den Teppich. Liebe ist alles. Und ohne die Liebe ist alles nichts.

Es gilt das gesprochene Wort.

Redaktion: Pfarrer Martin Vorländer (martin.vorlaender@gep.de)

Weitere Sendungen, Informationen, Audios und mehr finden Sie unter:

http://rundfunk.evangelisch.de/kirche-im-radio/dradio/worte-zum-tage

Facebook: https://www.facebook.com/deutschlandradio.evangelisch

Neuer Kommentar

Dein Name oder Pseudonym (wird öffentlich angezeigt)
Mindestens 10 Zeichen
Durch das Abschicken des Formulars stimmst du zu, dass der Wert unter "Name oder Pseudonym" gespeichert wird und öffentlich angezeigt werden kann. Wir speichern keine IP-Adressen oder andere personenbezogene Daten. Die Nutzung deines echten Namens ist freiwillig.

Folge uns und verpasse keine Episode

Erhalte automatisch neue Episoden auf dein Endgerät.