Kriegsrelikt
Shownotes
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Morgenandacht im Deutschlandfunk
Pfarrer Michael Ksling
aus Berlin
Kriegsrelikt 19.05.2025
Das Ding wog schwer. Ein Rohr aus Stahl. Ein halber Meter. Armdick. An beiden Enden abgewinkelt und mit einer Linse verschlossen. Wenn man es hochhob, gut ausbalancierte und am unteren Ende hineinschaute, sah man die Welt von etwas oberhalb. Aber seltsam, diese Striche und Zahlen. Waren da Zahlen? Jedenfalls ein Kreuz. Ein Fadenkreuz. Ich konnte die Dinge anpeilen und ins Visier nehmen: Bume, Huser, Autos, Menschen.
Das Ding kam aus dem Fundus meines Vaters, ein Relikt aus einer nicht fernen Vergangenheit. Er hat es als Kind irgendwo gefunden, auf einem seiner Streifzge durch das Hinterland Berlins. Es war das Zielfernrohr eines Panzers, durch das einst ein Soldat auf die Welt als Schlachtfeld sah. Ich war neun Jahre alt, als mein Vater mir das Ding in die Hand gab, mir half, es zu halten, und mich hindurchschauen lie.
Im Nachhinein berlege ich: Wie viele Bilder hat wohl das Licht durch dieses abgewinkelte Rohr transportiert? Das Licht wird gebrochen und durch eine komplizierte Optik ber Spiegel und Linsen ins Innere geleitet. Bis es schlielich auf der Netzhaut des Richtschtzen ankommt, eines Leutnants oder eines Gefreiten. Es zeigt ihm: Da bewegt sich was. Da ist ein Ziel, auf das ich schieen kann.
Wie viel Tod brannte sich da ein? 75 bis 80 Millionen Menschen, je nach Schtzung, verloren ihr Leben im Zweiten Weltkrieg. Direkt beim Kmpfen und bei Bombenangriffen. Oder indirekt durch die Folgen des Krieges, durch Hunger und Krankheiten. Der Kontinent ein weites Feld voller Totengebeine. berhaupt unsere Erde. Man grbt und findet: Knochen, Pfeilspitzen, eingeschlagene Schdel, Koppelschlsser, durchschossene Helme. Du gehst und lufst und kommst um die Schlachtfelder nicht herum. Stehst mitten drin.
Heute vor 80 Jahren war der Frieden in Europa elf Tage alt. In Asien war der Weltkrieg noch nicht zu Ende. Die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki waren noch nicht abgeworfen. Und heute? Ach Charkiw. Ach Odessa. Es ist zum Verrcktwerden. Dass das immer wieder von vorne beginnt. All die Toten! Es muss doch endlich etwas Neues kommen!
In der Bibel gibt es diese Geschichte, in der Gott den Propheten Hesekiel auf ein weites Feld voller Totengebeine fhrt. Wo er hinschaut, Knochen. Lngst verdorrt. Ein toter Ort. Gott sagt zu Hesekiel: Du Menschenkind, meinst du wohl, dass diese Gebeine wieder lebendig werden? Und dann gibt Gott den Auftrag: Sprich zu ihnen: Ihr verdorrten Gebeine, so spricht Gott: Siehe, ich will Odem in euch bringen, dass ihr wieder lebendig werdet. (Hesekiel 37,1-5)
Mit dieser Erzhlung stehen wir am Anfang. Mit nichts als der Hoffnung, dass Gottes Versprechen nicht nur fr damals gilt. Dass Gott tun wird, was er einmal versprochen hat. Ich vertraue darauf: Mit Gottes Odem ist ganz Neues mglich. Ich halte an der irrwitzigen Hoffnung fest: Der Krieg hrt auf. Frieden kommt. Nicht noch mehr Tote. Eine Welt, in der Gerechtigkeit und Frieden sich kssen, wie es an anderer Stelle in der Bibel heit.
Es kann die Zeit beginnen, in der Vter ihren Shnen nicht die Relikte der Schlachtfelder weitergeben. Die Utensilien zum Tten bleiben besser in den Trmmern liegen. Das Panzerzielfernrohr habe ich nicht aufgehoben. Irgendwann ist es mit dem Sperrmll abtransportiert worden.
Ich will nicht, dass kommende Generationen die Welt durch Zielrohre als Schlachtfeld sehen. Statt auf den schweren Stahl, aus dem das Rohr gemacht ist, hoffe ich auf Gottes Geist leicht wie Luft. Er weht bers Totenfeld und haucht neues Leben ein. Glaube hat eine raffinierte Optik. Glaube sieht schon, was noch kommt. Es ist das Leben und der Frieden.
Es gilt das gesprochene Wort.
Redaktion: Pfarrer Martin Vorlnder (martin.vorlaender@gep.de)
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